Alt, schön, bedroht

Eine Momentaufnahme aus Hanois 36-Gassen-Gebiet

Ein Bild, das aus der Zeit gefallen scheint.

Wenn sich das Licht des Tages mit dem aus unzähligen kleinen Läden und Boutiquen in den Straßen der Altstadt überlagert, ist die Stunde der Fotografen. Jahrhundertealte Bäume beschirmen mit ihrem grünen Blätterdach Menschen und Häuser. Die Wurzeln der Giganten konkurrieren auf den Gehwegen mit abgestellten Mopeds und auf kleinen Schemeln sitzenden, scheinbar immer essenden Hanoiern. Ein Rikschafahrer wartet auf Kundschaft, der Verkehr macht keine Pause. Offen stehenden, französisch geprägten Fensterläden entweichen leise Klänge auf dem Klavier.

 

„Frisches Brot! Noch ganz warm!“ Durch den weithin hörbaren Singsang einer Händlerin erwacht die Hang Bong, die Baumwollgasse. Mit leichtfüßigen Schritten geht die junge Frau von Haus zu Haus. Ihr Tragholz aus Bambus auf ihrer Schulter wippt unter der duftenden Last. Sie verkauft sie mit einem Lächeln im gebräunten Gesicht. Neben ihr streben meist ältere Menschen, alle im Jogging- oder Hausanzug, zielbewusst zur Stadtmitte. Hier liegt, noch hinter einem Schleier aus ersten Sonnenstrahlen im Morgennebel, der Hoan-Kiem See. Ein Ort, umgeben von Mythen und Legenden, eingerahmt von hohen, alten Bäumen und gepflegten Blumenrabatten. Frühaufsteher unter den Touristen erleben hier ein für sie kostenloses Schauspiel: Zwischen Jadeberg-Tempel, Schildkrötenturm und Eiscafé üben sich Tausende Hauptstädter in Schwert -, Fächer - und Standarttänzen nach der Musik aus mitgebrachten CD-Playern, spielen Feder- und Handball, stärken ihre Muskulatur an Reckstangen, praktizieren Tai Chi und Qi Gong, joggen oder gehen einfach nur spazieren.

 

Hanoi ist eine rasant wachsende 7,8 Millionen Metropole mit einer 1000jährigen Geschichte. Die äußerst lebendige und malerische Altstadt, auch als 36-Gassen-Gebiet bezeichnet, gilt als eines der interessantesten Bau-Ensembles in Asien. Sie wird als Keimzelle der städtischen Zivilisation Vietnams und als integraler Bestandteil der nationalen Identität betrachtet. Als Kaiser Ly Thai To im 11. Jahrhundert die Hauptstadt von Hoa Lu nach Dai La verlegte, an das Westufer des Roten Flusses, änderte er den Namen der Kaiserlichen Zitadelle um in Thang Long, aufsteigender Drache – ein Symbol der Macht und Intelligenz. Mit dem Kaiser kamen Bauern, Handwerker wie Schmiede, Tischler, Töpfer, Weber, Steinmetze. Sie schlossen sich in Gilden zusammen. Ein Dorf rückte an das andere. In ihren Gassen errichteten sie eigene Versammlungshäuser und buddhistische Tempel. So hat das Gebiet seinen Ursprung als Versorgungszentrum für die vietnamesischen Herrscher und als überregionaler Marktort. Es stellt das älteste noch existierende Handels-, Markt- und Gewerbegebiet Vietnams dar.

 

Doch Hanois Altstadt ist bedroht. Wohnungsnot und ein ständig anwachsender Zustrom der Landbevölkerung in die Stadt haben zu einer Überbelegung vieler erhaltenswerter Häuser geführt. Mit einer Wohnfläche von nur 1,5 Quadratmeter pro Person und 90 000 Menschen galt das Gebiet Ende der 80er Jahre als eines der am dicht besiedelsten in Südostasien. Oft müssen sich mehrere Generationen einen Raum teilen. Waschgelegenheiten und Toiletten stammen nicht selten noch aus dem 19. Jahrhundert. Vermoderte Wände und windschiefe Dächer sind die Folge jahrzehntelanger Nutzung ohne den Erhalt der Bausubstanz.

 

Seit Doi Moi, der vietnamesischen Perestroika im Jahr 1986, wollen auch die Bewohner der Altstadt vom überall sichtbaren wirtschaftlichen Aufschwung profitieren. Eine wachsende Mittelschicht und zu Wohlstand gekommene Vietnamesen im Ausland modernisieren drauflos, was ihr Geldbeutel hergibt. Die Folge sind oft der Abriss historisch wertvoller Gebäude und Neubauten, die allein nach den wirtschaftlichen Vorstellungen und dem Geschmack ihrer Besitzer entstehen. Aus Wohnhäusern werden schnellen Gewinn versprechende Mini-Hotels. Bereits 1993 enthüllte eine Studie, dass die Hälfte aller alten Gebäude in diesem Areal zerstört bzw. neu- oder umgebaut worden waren.

 

Die UNESCO, Wissenschaftler und Architekten aus dem In- und Ausland versuchen seit den 90er Jahren, die Regierung in ihrem Anliegen zu unterstützen, die Altstadt zumindest teilweise zu erhalten. Bis heute jedoch sind alle Bemühungen wegen fehlender, finanzieller Mittel, ausgebildetem Personal, mangelnden Bewusstsein der Hausbesitzer für das historisch wertvolle Ensemble und grassierender Korruption gescheitert.

 

Die Namen der Gassen, die mit dem Wort Hang (Ware) beginnen, fungieren teilweise noch immer als ein Aushängeschild für die dort angebotenen Produkte: In der Schuhgasse sind die Schuhmacher am Werk, in der Gasse der Weihrauchpapiere werden farbenfrohe Lampions verkauft, in der Seidengasse Seidenstoffe in einladenden Boutiquen. Über Jahrhunderte fortwährende Grundstücksteilungen führten zur Entstehung sogenannter Tunnel- oder Rohrhäuser. Sie sind zur Straßenfront oft nur so breit, dass ein Mensch eintreten kann, erstrecken sich aber bis zu 80 Meter in die Tiefe.

 

Das 36-Straßen-Gebiet ist der Ort der offenen Wohnzimmer. Der Enge in den Häusern wegen findet das Leben auf der Straße statt. Kochen und essen, Wäsche waschen und Haare schneiden, Kinder versorgen und Zeitung lesen, mit den Nachbarn schwatzen. Dabei floriert der Handel mit jedem denkbaren Produkt. Am Tag werden aus Gehwegen Suppenküchen, Verkaufsstände, Schneidereien, Blumenläden, Friseurgeschäfte, Motorrad-Taxistände. Fliegende Händler müssen mit ihren Traghölzern und Transportwagen wie alle anderen Fußgänger auf die Fahrbahn ausweichen. Hier versuchen unablässig Mopeds, Fahrrad- und Rikschafahrer ohne Unfall an ihr Ziel zu kommen. Autos haben in vielen Gassen Fahrverbot. Bei Einbruch der Dunkelheit gehört der Asphalt Heerscharen von spielenden Kindern, Nachtmärkten, bummelnden Hauptstädtern und der Müllabfuhr. Der Mix aus traditioneller Lebensweise, ausgeprägtem Geschäftssinn und kulturellen Eigenheiten der Bewohner verleiht der Altstadt Hanois ein einzigartiges, unverwechselbares Flair.